Zerbst – Ev. Kirche St. Nicolai
Auftakt zur Restaurierung des historischen Glockengeläutes
Seit der Zerstörung durch Bomben im zweiten Weltkrieg ist die St. Trinitatiskirche nur noch als Ruine erhalten. Der Nord- und Südturm steht noch, der Mittelturm war wesentlich höher. Jetzt befindet sich auf dem Mittelturm eine Aussichtsplattform. Während unserer Arbeiten konnten wir von dort aus den Brocken sehen. Heute finden in der „Kirche ohne Dach“ Freiluftveranstaltungen statt.
In Zerbst haben sich engagierte Bürger im Förderkreis St. Nicolai Zerbst e.V. zusammengefunden um gemeinsam für das bedeutende Gebäude einzutreten. Seit der Wende konnte viel bewegt werden. Riesige Berge von Schutt waren aufzuräumen. Den größten Teil der umherliegenden Steine verwendete man zur Ausbesserung der Außenwand und zur Festigung der Mauerkrone. An den Türmen erfolgten erste Maßnahmen zur Sicherung bzw. Stabilisierung. Mit dem Ausbau der großen Glocke Gloriosa am 6.04.06 wurde ein nächstes großes Vorhaben vom Förderkreis in Angriff genommen:
Die Wiederherstellung vom historischen Glockengeläut St. Nicolai
Bis zur Zerstörung der Kirche besaß die Nicolai Gemeinde ein 7-stimmiges Glockengeläut. Ziel ist es, bis zum Ende des Jahres 2007 den Nordturm zu satbilisieren, einen neuen hölzernen Glockenstuhl einzubauen und wieder ein 5-stimmiges Glockengeläut erklingen zu lassen.
Glocke 1: »Gloriosa« | h 0 | Durchmesser: 195 cm | 1378 gegossen
Glocke 2: »Friedensglocke« | c 1 | Durchmesser: 163 cm | 1660 von Georg Schreiber Magdeburg gegossen
Glocke 3: Nicolaiglocke e1 Durchmesser 138 cm 1477 gegossen
Glocke 4: Neuguss
Glocke 5: kleine Glocke | a 2 | Durchmesser 54 cm | 1418 gegossen
Den ersten Kontakt zur Nicolaigemeinde gab es im Jahre 2001. Ich war damals sehr beeindruckt von der riesigen Kirchenruine inmitten der zu DDR-Zeiten errichteten Wohnblocks. Auf den Turm geführt, konnte ich sie sehen, auch leise hören, die Gloriosa von Zerbst. Eine so große Glocke mit diesem Alter hatte ich bis dahin nur in Divi Blasii Mühlhausen gesehen.
Aber das Umfeld der großen Glocke war erschreckend. Mir war damals klar, dass diese Glocke mindestens 5 t wiegt. Völlig schief hing sie an einem tief verkröpften Eisenjoch. Ein Glockenstuhl aus Winkeleisen trug die Besondere unter den Läuteglocken. Mehrfach war der Stuhl verstärkt, am Joch geschweißt. Unter der Glocke lagen dicke Eichenbalken, damit die Glocke nicht Schaden nimmt, wenn sie abstürzt. Man war also auf das Schlimmste gefasst. In der geräumigen Glockenstube hing neben der großen Glocke noch eine Glocke in einem eisernen Stuhl, die ehemalige Uhrglocke für den Stundenschlag.
Das 2006 begonnene große Glockenvorhaben konnte damals noch nicht begonnen werden. Es gab für uns nur einen kleinen Auftrag: Die Uhrglocke wurde mit einer elektrischen Läutemaschine ausgestattet, damit die Gemeinde wenigstens eine läutbare Glocke besitzt. Seit der Ausführung dieser Arbeiten 2001 besuchten unsere Monteure jedes Jahr die Nicolaikirche zur Wartung der elektrifizierten Uhrglocke. Um weitere Vorhaben schien es ruhig geworden zu sein.
Doch am 4.2.06 erhielt ich Post, vom Sachverständigen für Geläute und Turmuhren Dr. Rainer Thümmel, einen großen Brief. Darin enthalten war die Aufforderung zur Abgabe meines Angebots für den ersten Bauabschnittt zur Wiederherstellung des Geläuts St. Nicolai. Darüber war ich sehr erfreut. In meinen Gedanken bewegte sich die Glocke bereits aus dem Turm. Aber wie sollten wir es praktisch anstellen, diese schwere Glocke aus dem maroden Turm zu nehmen, ohne dass etwas passiert und es nicht unnötig kostenaufwändig wird? Verschiedene Varianten wurde gedanklich durchgespielt, Skizzen gefertigt und gerechnet.
Sachverständiger und Förderkreis waren mit meinem Angebot zufrieden. Am 24.3.06 erhielt die Firma Glocken & Turmuhren Christian Beck den Auftrag zur Demontage der Glocken, sowie Transport aller 5 Glocken in das Glockenschweißwerk Lachenmeyer, Nördlingen. Jetzt galt es alles Notwendige zügig vorzubereiten.
Für den Transport der großen Glocke bauten wir in unserer Werksatt eine Verschiebebahn aus zwei Stahlträgern und einen speziellen Schwerlastwagen. Der Wagen ist so bemessen, dass wir auch größere Glocken damit fahren können.
Die Arbeiten vor Ort
Am 3.04.06 war es schon soweit. Mit einem gut bepackten Transporter und Anhänger fuhr ich mit zwei meiner Mitarbeiter nach Zerbst.
Am Montag gab es einige vorbereitende Dinge zu erledigen. Absprachen vor Ort wurden getroffen. Es gab eine Andacht zum Beginn des großen Glockenvorhabens.
Für Dienstag 8 Uhr war ein 50-Tonnen-Autokran bestellt, der die Verschiebebahn und die von uns benötigten Hebezeuge in die in 31 m Höhe befindliche Glockenstube hob.
In der Ruine standen die beiden beschädigten Glocken von 1660, Durchmesser 160 cm und von 1477, Durchmesser 110 cm.
Damit auch diese Glocken mit in das Glockenschweißwerk versand werden konnten, waren sie aus der Kirche zu transportieren. Bei der größten, etwa 3 Tonnen schweren Glocke, kein Problem. Sie konnte „normal“ an ihrer Krone angehangen und über die Kirchenwand gehoben werden. Die beim Absturz schwer beschädigte kleinere Glocke bedurfte besonderer Vorsicht beim Transport. Ihr fehlte die komplette Krone, durch die Glockenwand gehen mehrere Querrisse. Um auch diese Glocke gefahrlos transportieren zu können bauten wir ein stabiles hölzernes Untergestell. Darauf stehend, schwebte um die Mittagszeit die etwa 1,4 Tonnen schwere Glocke über die Kirchenmauer. In der Glockenstube war nun die Verschiebebahn aufzubauen, exakt auszurichten und zu fixieren. Bei der Demontage vom eisernen Glockenstuhl floss mancher Tropfen Schweiß, es gab einige blaue Flecken.
Am Mittwoch setzten wir die Gloriosa froh und zufrieden auf dem Transportwagen ab. Es gab sogar eine Probefahrt bis vor den Turm. Noch hatten wir Sorge, dass der starke Wind den Wunschtermin zum Ablassen der Glocken gefährden könnte.
Aber am Donnerstag war es windstill, die Sonne schien. Schon vor 14 Uhr hatten sich interessierte Bürger versammelt um das große Ereignis mitzuerleben. Nachdem einiges an Schrott vom Turm genommen war, folgte kurz nach 14 Uhr die große Glocke der Stadt Zerbst – die Gloriosa.
Der Fahrer des 100-Tonnen-Autokrans hob sie gefühlvoll vom Transportwagen vor der Fensteröffnung ab, bewegte sie dann sicher über die Distanz von 30 m um sie vorsichtig auf dem Lkw der Spedition abzusetzen.
Es folgten die beiden beschädigten Glocken welche bereits vor der Kirche standen. Die Uhrglocke mit etwa 700 kg war schnell auf den Transportwagen gehoben und vor das Fenster gefahren.
Etwas schmunzeln konnten alle Zuschauer als zu guter Letzt die kleinste Glocke mit weniger als 100 kg am großen Kranhaken hing.
Gut verspannt und gesichert gingen nun alle fünf, mehr oder weniger beschädigten, kulturhistorisch sehr wertvollen Glocken, auf die Reise ins bayrische Nördlingen. Dem Team der Firma Glocken & Turmuhren Christian Beck blieb nun nur noch alles Werkzeug wieder aufzuräumen und zu verladen.
Die Glockenstube ist nun besenrein und wartet darauf bald instand gesetzt zu werden und möglichst zum gewünschten Zeitpunkt 2007 ein ganz besonderes, großes, schönes Glockengeläut beherbergen zu können.
Noch bevor der Donnerstag zu Ende ging, waren wir wohlbehalten mit dem vollbeladenenTransporter wieder in unserer Werksattt, in Kölleda zurück.
Winkeleisenglockenstuhl wird demontiert Ablassen der Gloriosa Transport in das Glockenschweißwerk
Ich bin dankbar, dass die Arbeiten so gut verlaufen sind, dass es keine Schäden gab.
Dem Förderkreis St. Nicolai Zerbst e. V. und Herrn Dr. Tümmel als Sachverständigen, danke ich für den Auftrag. Meinen Mitarbeitern danke ich für Ihren Einsatz bei der Vorbereitung und den Arbeiten vor Ort
Ich wünsche, dass die Reparaturarbeiten im Glockenschweißwerk wohl gelingen und die erforderlichen Gelder für das Vorhaben aufgebracht werden können.
Christian Beck